Leitsätze des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (9.11.2016) zum Straßenausbaubeitragsrecht

Pflicht zur Erhebung des Beitrags / Absehen von der Erhebung des Beitrags -
Art. 5 Abs. 1 Satz 3 Kommunalabgabengesetz (KAG),
Art. 62 Abs. 2 und 3 Gemeindeordnung (GO)

  1. Die Gemeinden sind nach der Soll-Vorschrift des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 KAG grundsätzlich verpflichtet, für die Erneuerung oder Verbesserung von Ortsstraßen und beschränkt-öffentlichen Wegen (Straßenausbau-)Beiträge von den Eigentümern und Erbbauberechtigten der bevorteilten Grundstücke zu erheben und insbesondere eine entsprechende Beitragssatzung zu erlassen.
  2. Nur unter besonderen – atypischen – Umständen darf eine Gemeinde von der Erhebung von Straßenausbaubeiträgen absehen und dadurch die Finanzierung beitragsfähiger Straßenbaumaßnahmen von den Begünstigten vollständig auf die Allgemeinheit verlagern. Für die Beurteilung, ob ein solcher atypischer Fall vorliegt, ist ihr kein Spielraum eingeräumt; sie unterliegt in vollem Umfang der Nachprüfung durch die Rechtsaufsichtsbehörden und Gerichte. Unter Berücksichtigung der in Art. 62 Abs. 2 und 3 GO festgelegten Grundsätze der Einnahmenbeschaffung verbleibt nur ein sehr eng begrenzter Bereich, innerhalb dessen vom Erlass einer Straßenausbaubeitragssatzung abgesehen werden kann.
  3. Besondere – atypische – Umstände, aufgrund derer ausnahmsweise vom Erlass einer Straßenausbaubeitragssatzung abgesehen werden kann, liegen grundsätzlich nicht vor, wenn eine Gemeinde – in nicht unerheblichem Umfang – Kredite aufnimmt oder Steuern einnimmt.
  4. Es ist kein tragfähiger sozialer oder finanzwirtschaftlicher Grund ersichtlich, aus dem eine Gemeine zugunsten der Eigentümer und Erbbauberechtigten der von beitragsfähigen Straßenbaumaßnahmen bevorteilten Grundstücke auf die Erhebung von Straßenausbaubeiträgen mit der Folge verzichten darf, dass die in Rede stehenden Mittel von anderen aufgebracht werden müssen oder zur Erfüllung anderer gemeindlicher Aufgaben fehlen.

Der BayVGH stellt erneut klar, dass der Begriff „sollen" grundsätzlich verbindlichen Charakter habe, es sei denn, es liege ein atypischer Ausnahmefall vor. Ob dies der Fall ist, lasse sich nur im Einzelfall feststellen. Es handele sich dabei um eine rechtlich gebundene Entscheidung, an die sich – bei Vorliegen eines atypischen Ausnahmefalls – auf der zweiten Stufe eine nur eingeschränkt überprüfbare Ermessensentscheidung der Gemeinde anschließe.

Bei der in Art. 62 Abs. 2 und 3 GO gesetzlich festgelegten Rangfolge der Einnahmebeschaffung („sonstige Einnahmen" vor „besonderen Entgelten" vor Steuern vor Krediten als ultimatives Deckungsmittel) handele es sich nicht nur um einen Programmsatz, sondern um zwingendes Recht. Die Straßenausbaubeiträge gehören zu den an zweiter Rangstelle stehenden „besonderen Entgelten".

Der BayVGH sieht keine Rechtfertigung für einen „Komplettverzicht" auf diese Einnahmequelle darin, dass eine Gemeinde haushaltsmäßig mehr oder weniger gut dasteht und sich einen Beitragsausfall „leisten kann".
Eine atypische Situation kann nach Auffassung des BayVGH nur in Betracht kommen, wenn die Gemeinde die in Art. 62 Abs. 2 GO festgelegte Reihenfolge der Deckungsmittel einhält und trotz des Beitragsverzichts sowohl die stetige Aufgabenerfüllung gesichert (Art. 61 Abs. 1 Satz 1 GO) als auch die dauernde Leistungsfähigkeit sichergestellt ist0 (Art. 61 Abs. 1 Satz 2 GO).
Im konkret entschiedenen Fall der Gemeinde Hohenbrunn im Landkreis München hat der BayVGH keinen atypischen Fall gesehen.
Die Vorgeschichte: Ursprünglich verfügte die Gemeinde Hohenbrunn über eine Straßenausbaubeitragssatzung. Aufgrund der guten Finanzlage der Gemeinde schien dem Gemeinderat eine solche jedoch entbehrlich und er beschloss deren Aufhebung. Das Landratsamt München beanstandete nach Art. 112 GO. Hiergegen klagte die Gemeinde erfolglos.

Bezogen auf den Fall Hohenbrunn führt der BayVGH sinngemäß aus:

  • Der gemeindliche Haushalt sei auch mittelfristig – nicht unerheblich – kreditfinanziert. Bei einem defizitären Haushalt scheide der Verzicht auf eine Straßenausbaubeitragssatzung von vornherein aus.
  • Etwas anderes könne auch nicht daraus gefolgert werden, dass die Gemeinde über höhere Rücklagen verfüge als von Rechts wegen gefordert, und auch nicht daraus, dass die Rückführung von Krediten wegen des aktuellen Zinsniveaus wirtschaftlich unzweckmäßig wäre.
  • Durch den Verzicht auf die Erhebung von Straßenausbaubeiträgen verlagere die Gemeinde die Finanzierung beitragsfähiger Maßnahmen vom Begünstigten auf die Allgemeinheit, insbesondere auf die Steuerpflichtigen (z. B. Gewerbesteuerzahler). Das widerspreche aber dem gesetzlichen Vorrang der „esonderen Entgelte" vor den Steuern.
  • Der Umstand, dass die Gemeinde seit Jahren keine Schlüsselzuweisungen im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs erhalte, könne den Verzicht ebenfalls nicht rechtfertigen. Schlüsselzuweisungen hingen von der gemeindlichen Steuerkraft ab, in deren Berechnung auch Einnahmen aus der Grund- und der Gewerbesteuer einfließen würden. Diese hätten aber gerade Nachrang gegenüber den „esonderen Entgelten".
  • Das Rangverhältnis der Einnahmequellen lasse sich nicht dadurch infrage stellen, dass Art. 62 Abs. 2 Nr. 2 GO den Vorrang der „esonderen Entgelte" unter den Vorbehalt des Vertretbaren und Gebotenen stelle. Der Beurteilungsspielraum der Gemeinden sei durch die „oll-Vorschrift" des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 KAG weitgehend eingeschränkt. Zudem könne es nicht sein, dass Sondervorteile für die Eigentümer und Erbbauberechtigten von anderen aufgebracht werden müssten oder zur Erfüllung anderer gemeindlicher Aufgaben fehlten.
  • Unerheblich sei, dass die möglichen Beitragseinnahmen im Verhältnis zum Gesamtvolumen des Haushalts mehr oder weniger gering seien.