Schneewittchen - eine Lohrerin?

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1986 gelang es dem Lohrer Apotheker und Fabulologen, Dr. Karlheinz Bartels, unterstützt von den Geistesblitzen seiner Stammtischfreunde im Lohrer Weinhaus Mehling, wissenschaftlich-fabulologisch einwandfrei zu beweisen, dass das Schneewittchen aus Lohr stammt.

Das Schneewittchenkabinett in der Abteilung Schloßgeschichte im Spessartzmuseum setzt das Märchen in Szene als „Raum im Raum“ – oder anders ausgedrückt: Es erwartet Sie ein begehbares Luftschloss zum Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und …. Staunen.

Märchen waren schon immer ein Tummelplatz wissenschaftlicher Deutungsversuche. Philologen, Soziologen und Psychologen durchleuchteten die Märchen der Grimms aus unterschiedlichsten Perspektiven. Neu hinzugekommen ist die Fabulologie. Ihre „Methoden unterscheiden sich von den oben angeführten, dass sie nichts hineingeheimnissen, ändern oder zerpflücken, sondern Text, Örtlichkeiten und Historie in Einklang bringen; sie beruhen auf den klassischen historischen Hilfswissenschaften“, konstatiert Bartels.

Das Bestechende an Bartels‘ Untersuchung ist, dass sich auch heute noch jeder Schritt seiner Beweisführung empirisch und dazu noch genußvoll nachvollziehen läßt. Viele reale Bezugspunkte des Märchens konnte Bartels in Lohr und Umgebung nachweisen. Allein das ist schon ein Grund für einen Besuch in Lohr.

Daher ist jedem, der sich mit der Fabulologie als wissenschaftlicher Methode näher beschäftigen will, zunächst ein Besuch im Spessartmuseum anzuraten. Hier sind die zentralen Beweisstücke fein säuberlich angeordnet. Beginnen wir mit den männlichen Hauptpersonen des Märchens: wie kommen Zwerge in den Spessart? Die einfachen Menschen im Spessart waren kleinwüchsig, schon allein wegen der sprichwörtlichen Not im Spessart. Für die kurfürstlichen Herren war der Spessart nur als Jagd- und Waldgebiet attraktiv. Jeder Versuch, durch Rodungen die landwirtschaftlichen Nutzflächen zu vergrößern und damit die Nahrungsgrundlage zu verbessern, war strengstens untersagt.
Die Bevölkerung war gezwungen, sich andere Lösungen einfallen zu lassen, und die bestand darin, den Spessart systematisch als Rohstofflager auszubeuten.

Dies taten z.B. Bergleute. Dazu wurden besonders kleinwüchsige Männer, teilweise auch Kinder benötigt, da nur sie in den niedrigen Stollen arbeiten konnten. Die gewonnnen Erze wurden in Eisenhämmern und Schmieden weiter verarbeitet. Das Werkzeug, das benötigt wurde, um die eisernen Pantoffeln herzustellen, in denen die Stiefmutter tanzen mußte, befindet sich in der komplett eingerichteten Schmiede des Museums. Hatten die Mainzer Kurfürsten im Hochspessart nur die Ansiedlung von Personen erlaubt, die ihnen bei der Jagd behilflich waren, wie zum Beispiel den Jäger, der den Auftrag hatte, Schneewittchen zu töten, so ließen sie im Norden eine räumlich und zeitlich begrenzte Ansiedlung von privaten Glashütten zu. Auch der „durchsichtige Sarg von Glas“ kann also problemlos in einer dieser Glashütten im Nordspessart hergestellt worden sein.

Dramaturgisch geschickt hat die Museumsverwaltung die Lohrer Spiegel als letztes Glied der Indizienkette an das Ende des Rundgangs gesetzt, denn der wichtigste Beleg dafür, dass Schneewittchen eine Lohrerin gewesen sein muss, sind für Bartels die „Sprechenden Spiegel“, nachweislich Erzeugnisse aus der Kurmainzischen Spiegelmanufaktur Lohr am Main (1698 – 1806). Die Lohrer Spiegel waren so kunstvoll gefertigt, dass ihnen allein schon deshalb der Ruf vorauseilte, „immer die Wahrheit zu sagen“. Sie wurden daher zu einem der beliebtesten Geschenkartikel an europäischen Königs- und Fürstenhöfen. Die Lohrer Spiegel „sprechen“ aber auch – ein Lohrer Spezifikum - durch ihre Sinnsprüche auf der Rahmung. „Elle brille à la lumière“ (sinngemäß: sie ist so schön!) ist Beispiel für einen solchen Sinnspruch.

Das ehemalige Hauptgebäude der Kurmainzischen Spiegelmanufaktur, in der die „Sprechenden Spiegel“ hergestellt wurden, steht noch heute an der Lohr (als Verwaltungsgebäude der Fa. Bosch-Rexroth). Sogar das Original-kurmainzische Steinwappen befindet sich noch an der Stirnseite des Gebäudes.

Wer aber war Schneewittchen? Nach Dr. Bartels kann es sich dabei nur um die 1725 im Schloss der Kurfürsten von Mainz zu Lohr geborene Maria Sophia Margarethe Catharina, Freifräulein von Erthal, handeln. Der Chronist der Familie von Erthal, M.B. Kittel, charakterisierte Maria Sophia als einen „Engel an Barmherzigkeit und Güte“, als „wohltätig gegen Arme und Nothleidende“, als ein Mädchen von besonderer Liebenswürdigkeit. Für die „Volkseele“, die Bevölkerung Lohrs und die des Spessarts, war die Erthal-Tochter das Idealbild eines Königskindes. Man hat sie auf Grund ihrer rühmenswerten Eigenschaften geradezu märchenhaft verklärt.

Ihr Vater, Philipp Christoph von Erthal, war zwar als kurmainzischer Oberamtmann des Oberamts Lohr von 1719 bis1748 kein König, hatte aber quasi als Sonderbotschafter und „Außenminister“ der Mainzer Kurfürsten viele direkte Kontakte mit Kaisern und Königen in ganz Europa. Der Oberamtmann hatte daher in der Vorstellung der Lohrer Bevölkerung alle Insignien eines Königs. Die Tatsache, dass er auf Grund seiner vielen diplomatischen Missionen monatelang nicht zu Hause war, erklärt auch die merkwürdig inaktive Rolle des Königs im Märchen. Philipp Christoph von Erthal residierte mit seiner Familie natürlich im Kurmainzischen Schloss in Lohr, welches sein Amtssitz war.

Nach dem Tode von Schneewittchens leiblicher Mutter 1741 heiratete der Vater 1743 zum zweiten Male: Claudia Elisabeth von Venningen, geb. von Reichenstein. Sie war die Stiefmutter von Phillip Christoph von Erthals sieben noch lebenden Kindern aus erster Ehe. Sie war nachweislich herrschsüchtig und nutzte ihre Stellung zum Vorteil ihrer eigenen Kinder, die sie aus erster Ehe mitbrachte. Sie besaß – wie konnte es anders sein - auch einen „Sprechenden Spiegel“. Ein besonders prunkvoller 1,60m hoher, reich verzierter Spiegel, in der Zeit um 1720 nachweislich in Lohr hergestellt, war wahrscheinlich ein Geschenk von ihrem Mann, Philipp Christoph von Erthal, dem die Spiegelmanufaktur als Oberamtmann unterstand. Der Spiegel spricht durch seinen Sinnspruch auf der Rahmung eine besonders deutliche Sprache. Der Hinweis des Spiegels auf ihre Selbstliebe (‚Amour Propre‘) im rechten oberen Medaillon muss der eitlen und eifersüchtigen Stiefmutter keine Ruhe gelassen haben. Der Spiegel ist noch heute im Schloss zu besichtigen.

Noch nicht genug Beweise? Dann haben Sie ja noch Gelegenheit, Schneewittchen auf ihrem Fluchtweg zu folgen. Schneewittchen wusste, dass es vor den Anschlägen ihrer Stiefmutter auf kurmainzischem Territorium niemals sicher sein würde. Über 35 Kilometer musste es über die damaligen kurmainzischen Landesgrenzen in die Grafschaft Hanau fliehen, bis es sich in Sicherheit wähnen konnte und hinter den sieben Bergen bei den Bergwerken in Bieber auf die Zwerge traf. Sein Fluchtweg ist heute durchgehend als Schneewittchen-Wanderweg ausgewiesen. Die Wegmarkierung: ein Schneewittchen mit Zwergen vor dem Lohrer Schloss.

Für diesen Ausflug in die Fabulologie sollten schon drei Tage eingeplant werden: zwei Tage fürs Laufen und einen Tag für die fabulologischen Vorbereitungen. Dazu gehört neben dem Museumsbesuch unbedingt ein Besuch im Weinhaus Mehling. Sein Gewölbekeller, die urgemütliche Weinstube und im Sommer die Tische draußen zwischen Märchenbrunnen und altem Rathaus auf dem unteren Marktplatz mit Blick, wenn man den Hals tüchtig reckt, auf den Schneewittchenbrunnen vor Dr. Bartels‘ Apotheke in der Fußgängerzone, bieten die richtige Atmosphäre für fabulologische Arbeiten. Vielleicht hilft auch der hier ausgeschenkte Frankenwein bei der Beantwortung fabulologischer Fragen, denn viele Probleme sind noch ungelöst.

Einfach ist noch die Antwort auf die Frage, woher der Apfel kam. Die Hänge um Lohr waren und sind noch heute voller Streuobstwiesen, so vielen, dass sieben (!) trinkfeste Lohrer im 19. Jahrhundert sogar einen „Verein zur Vertilgung des reichlichen Apfelmostes“, die „Buffonia“, gründeten. Der Name des Vereins kommt vom Lohrer Wort „Buff“ für Apfelwein. Auch die Frage, woher das Gift kommt, hat Bartels beantwortet: vom Saft der im Spessart häufig vorkommenden Tollkirsche, die bei zu geringer Dosierung zur Totenstarre und nicht zum Tod führt. Aber wer war der Prinz, der sich in Schneewittchen verliebt hat, Herr Apotheker? Wo fand die prachtvolle Hochzeit statt, die der Stiefmutter zum Verhängnis wurde? Wird je das Zwergenhaus bei Bieber gefunden werden? Fragen über Fragen, die nur der Frankenwein beantworten kann.

Quelle: Karlheinz Bartels, Schneewittchen – Zur Fabulologie des Spessarts, 2. Auflage (ergänzte Neuauflage), Lohr a. Main 2012, Hrsg. Geschichts- und Museumsverein Lohr a. Main in: Schriften des Geschichts- und Museumsvereins Lohr a. Main, Folge 52 (an der Kasse des Museums erhältlich).