Mehr Liebe, weniger Hiebe - 50 Jahre Beratungsstelle für Eltern, Jugendliche und Kinder

Kindererziehung und Familienleben sind nicht immer problemlos. Unterstützung erhalten Eltern und Kinder im Landkreis Main-Spessart bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche. In diesem Jahr feiert diese Beratungsstelle ihr 50-jähriges Jubiläum. Die Fragestellungen und Probleme, die im Mittelpunkt der Beratung stehen, sind heute ganz andere als vor fünfzig Jahren. Sie sind damit gleichzeitig ein Spiegel der jeweiligen Zeit. So gab es in den letzten Jahrzehnten nicht nur einen starken Wandel in den Lebenswelten der Kinder, sondern auch einen Wertewandel bei den Erziehungszielen. Wir wollen im Gespräch mit dem Leiter der Beratungsstelle, Otmar Braunwarth, im Gespräch beleuchten, wie sich das Verständnis von Familie und Kindererziehung in den letzten 50 Jahren verändert hat.

Herr Braunwarth, wenn man auf letzten 50 Jahre zurückblickt, wie hat sich das Familienbild verändert?
Ottmar Braunwarth: 1970 war der Mann der „Ernährer“ der Familie. Seine Ehefrau war nicht berufstätig, sie führte den Haushalt und war für die Kindererziehung zuständig. So war es in den Anfangsjahren dieser Beratungsstelle eine große Seltenheit, wenn ein Vater mit zu einem Gespräch kam. Die sogenannte „Hausfrauenehe“ war vor einem halben Jahrhundert in der Bundesrepublik nicht nur eine private Entscheidung, sondern ein staatlich gewolltes Lebensmodell. So blieb es dem Ehemann bis 1977 per Gesetz vorbehalten, seine Zustimmung zu verweigern, wenn seine Frau arbeiten wollte.
Heute ist der Großteil der Frauen auch in der Ehe berufstätig. Die allermeisten Paare wollen Beruf und Familie partnerschaftlich leben. In der Lebensrealität muss dies zwischen den Partnern mit jedem Kind und jeder beruflichen Veränderung aufs Neue gut ausgehandelt werden, sonst entsteht schnell ein Gefühl von Unfairness und Unzufriedenheit. Bei vielen Paarkonflikten geht es in der Beratung um diese Aufteilung. Im Gegensatz zu früher nehmen Männer heute regen Anteil an der Schwangerschaft der Frau und sind auch bei der Geburt dabei. Sie wechseln Windeln und schieben in aller Öffentlichkeit den Kinderwagen. Anfang der 70iger galt so ein Verhalten dagegen als unmännlich.

Trotz zahlreicher Beratungs-und Hilfsangebote wird heute etwa jede dritte Ehe geschieden. Wie sah das früher aus?
Ottmar Braunwarth: 1970 geschieden oder eine alleinerziehende Mutter zu sein, war ein gesellschaftlicher Makel. So blieben viele Paare zusammen, obwohl die Ehe zerrüttet war. Bei einer Scheidung galt bis 1977 das sogenannte „Verschuldensprinzip“. Das Familiengericht hatte herauszufinden, welcher Elternteil an der Trennung schuld war. Dies hatte nicht nur oft eine Schlammschlacht zur Folge, sondern barg für die Frauen ein hohes finanzielles Risiko. Wurde ihr die Schuld zugewiesen, stand ihr unter Umständen keinerlei Unterhalt für sich und die Kinder zu. So überlegten sich Frauen eine Scheidung sehr gut. Für Kinder kam eine Scheidung oft mit dem Ende der Vaterbeziehung gleich, da sich diese während der Ehe kaum um ihre Kinder bemüht hatten.

Und wie sieht es heute aus?
Ottmar Braunwarth: Heute werden unglückliche Ehen nicht mehr durchgestanden, sondern geschieden. Eine Scheidung ist kein gesellschaftlicher Makel mehr. Das ändert aber nichts daran, dass für junge Menschen nach wie vor eine Partnerschaft - nicht unbedingt die Ehe - für das Lebensglück am wichtigsten ist.
Heute will der Großteil der Väter auch nach einer Scheidung Verantwortung für seine Kinder übernehmen und möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen. Dieser Wunsch wird bei unseren Beratungsgesprächen immer häufiger geäußert. Daher wird bei einer Trennung das gemeinsame Sorgerecht angestrebt. Zumindest ist dies das Ziel fast aller Eltern vor der Trennung. Die Realität sieht dann leider oft anders aus. Viele Eltern stehen im Scheidungsverfahren vor dem Familiengericht, obwohl sie wissen, dass massiver Elternstreit sich sehr negativ auf die Psyche der Kinder auswirkt.
Hinzu kommt, dass eine Scheidung auch heutzutage zumeist eine deutliche finanzielle Verschlechterung für die Eltern bedeutet. Deshalb überlagern weiterhin finanzielle Fragen die Umgänge und die Beziehungen von Trennungskindern.

Wie haben sich Kindererziehung und die Eltern-Kind-Beziehungen verändert?
Ottmar Braunwarth: Im Deutschland der Nachkriegszeit fanden sich noch in fast jedem Haushalt der Erziehungsratgeber der Ärztin Johanna Haarer, die zur Zeit des Nationalsozialismus Eltern erklärt hatte, wie man Kinder für den Führer erzieht. Ihr 1949 erschienenes Buch „Die Mutter und ihr erstes Kind“, war zwar von Nationalsozialistischem Pathos befreit, die pädagogischen Prinzipien blieben unverändert. Darin wurde eine Erziehung mit harter Hand propagiert, die emotionalen Bedürfnisse der Kinder waren nachrangig. Das Buch blieb immerhin bis 1987 auf dem Markt.
Gehorsam, Ordnung und Respekt vor Autoritäten waren 1970 die Top-Erziehungsziele. Die Mittel, sich als Eltern Respekt zu verschaffen, waren Ohrfeigen und eine Tracht Prügel. Diese waren tatsächlich nicht nur gesellschaftlich anerkannt, sie waren auch gesetzlich erlaubt. Bis 1973 durften auch Lehrer in der Schule die Prügelstrafe anwenden. Dazu passt eine interessante geschichtliche Randnotiz:
1978 sollte Astrid Lindgren (Autorin u.a. von Pippi Langstrumpf) der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche verliehen werden. Doch wenige Tage vorher stand die Veranstaltung noch auf der Kippe. Die Rede von Astrid Lindgren war der Stiftung zu provokativ. „Wie viele Kinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt von denen, die man liebt, nämlich von den eigenen Eltern erhalten und dieses Wissen dann der nächsten Generation weitergegeben“, so eine Passage ihrer Rede, die sich deutlich gegen Gewalt als Mittel der Erziehung aussprach. Für uns heute selbstverständlich, damals revolutionär. Doch Astrid Lindgren ließ sich den Mund nicht verbieten. Entweder sie dürfe die Rede halten, oder sie komme nicht. Dem Veranstalter drohte eine öffentliche Blamage. Im letzten Moment lenkte er ein. Erst im Jahr 2000 verbot übrigens der Gesetzgeber die Züchtigung, seitdem haben Kinder das "Recht auf eine gewaltfreie Erziehung".

Und wie gestalten sich im Jahr 2020 die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern? Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht, Herr Braunwarth?
Ottmar Braunwarth: Die Sicht auf Kinder und die Wichtigkeit einer positiven Eltern-KindBeziehung sowie Anerkennung der individuellen Bedürfnisse und Rechte der Kinder haben sich fundamental geändert. Die positiven Auswirkungen zeigen sich auch in Zahlen. Seit 2007 hat die Zahl der wegen Gewalttaten polizeilich registrierten tatverdächtigen Jugendlichen um gut 40 Prozent abgenommen. Ähnliche Trends zeigen sich beim Rückgang des Suizids oder des Alkoholkonsums.
Wir stellen bei der Beratung immer wieder fest, dass viele Eltern sehr hohe Erwartungen an sich haben. Sie wollen, alles richtig zu machen und die Kinder bestmöglich fördern. Erziehungsratgeber sind sehr gefragt. Diese suggerieren, dass Erziehung lehrbuchmäßig zu funktionieren scheint. In der praktischen Umsetzung erscheinen Eltern jedoch eher unsicherer und hilfloser als früher. Häufig geht es in der Beratung um die Frage: Wie werde ich als elterliche Autorität vom Kind/Jugendlichen anerkannt ohne autoritär zu sein. Die selbstbewusst erzogenen Kinder von heute erfordern jedoch ein ganz anderes Konfliktlösungsmodell als früher.
Erzieherinnen und Lehrer beklagen, dass bei Kindern immer mehr nur das „Ich“ zählt, dass der Respekt vor den Bedürfnissen der anderen und sogenannten „Respektspersonen“ zunehmend verloren geht. Sie beklagen auch, dass ein Teil der Eltern resigniert hat, ihren Kindern Grenzen zu setzen, dass Eltern die Erziehung auf LehrerInnen und ErzieherInnen abwälzen.

Kommen wir zu den Themen „Bildung“ und „Sozialer Aufstieg“. Was hat sich da in den vergangenen 50 Jahren getan?
Ottmar Braunwarth: 1970 war es der Normalfall, dass Kinder die Volksschule abschlossen und dann einen meist handwerklichen Beruf lernten. Leistungsdruck war weitgehend unbekannt. In Zeiten der Vollbeschäftigung fand jeder einen Job. Die „Hausfrauenehe“ bedeutete, dass in den Köpfen die Auffassung weitverbreitet war, dass Mädchen keinen Beruf zu erlernen brauchten. Ende der 60iger Jahre war höhere Bildung mit Abitur und Studium weitgehend Kindern aus gut situierten Elternhäusern vorbehalten. Laut Statistik erlangten nur rund 12% der jungen Menschen die Hochschulreife, inzwischen sind es deutschlandweit über 50 %.
Die frühkindliche Bildung beginnt heute bereits im Kindergarten. Doch es gibt auch Schattenseiten. Der Leistungsdruck hat enorm zugenommen mit negativen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Das merken wir auch bei Gesprächen in unserer Beratungsstelle. Der wichtigste Wunsch der Eltern bei der Einschulung ist, dass ihr Kind nach der 4. Klasse mindestens die Realschule besucht. Die Mittelschule kämpft deshalb um ihren guten Ruf und die Kinder, die es nicht auf eine weiterführende Schule geschafft haben, fühlen sich oft weniger wert. Eltern fungieren als unerlässliche Hilfslehrer und die Nachhilfe-Industrie boomt. Obwohl die Ganztagsbetreuung und die Zahl an Schulsozialarbeitern massiv ausgebaut wurde, bestimmt in Deutschland die soziale Herkunft weiterhin in stärkerem Maß über den Schulerfolg als in vielen anderen Ländern.
Wenn man betrachtet, wie viel sich in den zurückliegenden 50 Jahren gesellschaftlich verändert hat und damit auch in unserer Arbeit an der Beratungsstelle niedergeschlagen hat, dann dürfen wir gespannt sein, wie sich die kommenden fünf Jahrzehnte gestalten werden.